Dirigent der Grausamkeiten – Intendant des Ekels

Im Rahmen eines Seminars „Growing up in the 20th century“ an der Uni Köln bin ich das erste Mal auf Ian McEwan gestoßen. Seitdem faszinieren mich die Geschichten dieses Autors. Mit den Jahren habe ich einen Großteil seiner Erzählungen und Romane gelesen, wenn auch leider noch nicht den zuletzt erschienen Roman „Solar“, und McEwan schaffte es bisher jedes Mal mich in seinen Bann zu ziehen. Mit sämtlichen Literaturpreisen zurecht ausgezeichnet, gilt McEwan wohl als einer der besten zeitgenössischen Autoren und ist seit den Verfilmungen von „Enduring Love“ und besonders „Atonement“ auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt.

Aufgrund meiner Begeisterung habe ich ihn bei der Themenauswahl meiner Magisterprüfung gewählt, obwohl ich bis auf „The Cement Garden“ im Rahmen meines Studiums keines seiner Bücher behandelt hatte. Zu Beginn der mündlichen Prüfung wurde mir die Frage gestellt, wie ich zu seinem Spitznamen „Ian Macabre“ stünde, den man ihm nach Veröffentlichung seiner ersten Publikationen verliehen hatte. Eine überaus interessante und spannende Frage, über die man wohl stundenlang referieren könnte. Soweit ich mich erinnere antwortete ich damals in etwa, dass gerade in seinen frühen Texten das Makabere im Vordergrund stehe, jedoch in seinen späteren Geschichten zugunsten einer subtilen Psychologisierung der Charaktere in den Hintergrund trete. Für eine kurze Einschätzung soweit richtig, jedoch ist diese Subtilität auch schon in den älteren Texten vorhanden. McEwan ist ein Meister des Details; nichts, was er erwähnt, ist bedeutungslos und oftmals sind es gerade die scheinbaren Nebensächlichkeiten, die einen zentralen Schlüssel zur Interpretation beinhalten.

Einige Leser dürften von dem Makaberen vielleicht abgeschreckt werden, denn er provoziert und polarisiert gerne durch das Extreme, doch lässt man sich auf seine Geschichten ein und schaut auch hinter die grobschlächtigen Darstellungen, so stößt man immer auf ein genial zusammengesetzes Mosaik, in dem jedes Steinchen an der richtigen Stelle sitzt und das erst in seiner Gesamtheit ein mehrdimensionales Bild entstehen lässt. Zudem sind seine Inhalte immer, und da hat er eine große Gemeinsamkeit mit Umberto Eco, bis in die Feinheiten hinein recherchiert. Bestes Beispiel dafür mag die Darstellung des psychisch gestörten Liebenden in „Enduring Love“ sein, der am Clérambault-Syndrom erkrankt ist. McEwan schildert nicht nur die Auswirkungen dieser Störung auf eben den Kranken, sondern auch auf das Opfer sowie die Auswirkungen auf dessen zwischenmenschliche Beziehungen. Selbst wenn sich Charaktere bei einem Essen über ein Thema unterhalten, so hat man oft den Eindruck, als würde man in einem Fachbuch zum Thema lesen, so sehr sind solche Szenen gespickt mit Einzelheiten.

McEwan ist ein Bildhauer der menschnlichen Psyche und schafft es auf fesselnde Weise, uns vorzuführen, wie der Mensch denkt und wie irrational das Gehirn bisweilen funktioniert. In „Saturday“ beobachtet der Protagonist zu Beginn der Geschichte zufällig einen Flugzeugabsturz und ihm kommt, weil er Mediziner und somit sehr naturwissenschaftlich geprägt ist, die Assoziation an Schrödingers Katze. Er fragt sich, ob die Insassen des Flugzeugs wohl noch am Leben seien. Ein einziger, nebensächlicher Gedanke nur, der jedoch im Laufe des Romans immer wieder aufgegriffen wird. Wie ein Ohrwurm kehrt diese Assoziation immer wieder in die Gedanken des Protagonisten zurück, sei es durch externe Einflüsse oder aber durch ein Ausschweifen seiner Reflexionen. Nicht umsonst wird der komplexe Prozess des Denkens in diesem Roman dadurch plastisch dargestellt, schließlich ist der Protagonist Neurochirurg und dieses Themenfeld zentrales Element der Geschichte. Selbst in Momenten, wenn man nicht damit rechnet, klopft dieses Leitthema wieder an und schafft einen Bogen durch die Geschichte, der auf den ersten Blick wenig mit der Haupthandlung zu tun haben scheint.

Es sind solche Bögen, die die besondere Attraktivität seiner Geschichten ausmachen und über die man beim ersten Lesen gerne hinwegliest. Doch wenn man einige seiner Romane gelesen hat, lernt man, auf solche Zusammenhänge zu achten und erkennt, dass, wie eingangs erwähnt, darin oftmals wirkungsstarke Schlüssel zu einer tieferen Ebene liegen. So enthält beispielsweise der Fakt, dass in „The Cement Garden“ der Vater zu Beginn genau in dem Moment mit dem Gesicht im Zement erstickt, als der Sohn sich mastubierend auf sein Zimmer zurückgezogen hat, eine tiefere Ebene, die unendliche Interpretationsmöglichkeiten eröffnet, wenn man das Einzementieren der toten Mutter im Zentrum des Romans betrachtet.

Durch die Überzeichnung des Widerwärtigen aktiviert McEwan das Denken des Lesers. Er fordert ihn heraus – nicht nur, in dem er zu sagen scheint: „Du musst diese vulgäre Darstellung jetzt aushalten“, sondern er stößt uns noch einen Schritt weiter und macht uns klar: „Auch in dir ist dieses abstoßende Verhalten latent vorhanden.“ Er führt uns auf eine Gratwanderung am Abgrund der menschlichen Psyche. Natürlich identifiziert man sich nicht mit einem Teenager, der seine kleine Schwester vergewaltigt, wie in einer seiner Kurzgeschichten in „First Love, Last Rites“. Doch schaut man sich dann an, wie es zu dieser Tat gekommen ist, nämlich dadurch, dass der Junge in einem Wettstreit der Grenzüberschreitungen mit seinem Freund steht, so erkennt man, dass hier ein Prozess geschildert wird, der auch jeden von uns immer wieder an den latenten Punkt bringen kann, den man überschreitet ohne es zu merken und welcher dann in eine Katastrophe führt, die man aufgrund der schleichend veränderten Wahrnehmung nicht mehr als solche realisiert. Das Erwachen am Ende ist für beide gleichermaßen schockierend – für den Leser ebenso sehr wie für den Protagonisten.

In fast allen seinen Geschichten setzt McEwan solche Punkte. Es sind einzelne Gedanken, einzelne Aussagen oder einzelne Handlungen, die die Lawine ins Rollen bringen und in die allumfassende Zerstörung führen. Die missverstandene Aussage eines jungen Mädchens und deren Fehleinschätzung zerstört in „Atonement“ nicht nur das Leben der beiden frisch Verliebten, sondern auch das der Hauptfigur, die mit dieser Schuld ein Leben lang nicht fertig wird, bis sie kurz vor ihrem Tod ihren ganz individuellen Weg findet, Abbitte zu leisten. Ein falsch verstandener Satz in „For You“ zieht Konsequenzen nach sich, die unaufhaltsam das Gegenteil dessen heraufbeschwören, was man beabsichtigte. Die gegenseitige falsche Bewertung des Verhaltens des Freundes in “Amsterdam” offenbart eine perfide, selbstdestruktive Komponente eines gegebenen Versprechens.

All dies immer in einer beklemmenden Atmosphäre – einerseits durch die Konstruktion der Gesamtszenerie, wie etwa in „The Innocent“, welches im zwielichtigen Untergrund des geteilten Berlins angesiedelt ist, andererseits jedoch auch durch einzelne Vorkommnisse wie in „The Comfort of Strangers“, wo ein Foto an der Wand offenbart, dass der vermeintliche Fremde einem näher steht, als einem angenehm ist. Ian McEwan seziert die Gesellschaft, das Individuum,  die Psyche. Das Zufällige, Ungewollte und Unbewusste wird zur Initialzündung einer Reise ins Destruktive – zur unaufhaltsamen Schubkraft ins Abgründige. Es sind nicht die großen Beschlüsse, die dem Schiksal den Weg weisen, sondern die winzig kleinen Details, die über Erfolg oder Verdammnis entscheiden. Der Funke, der die Explosion entzündet, deren Gefahr man sich nicht einmal bewusst war.

Egal welche Geschichte man liest, in jeder findet man einen Spiegel, in den man eigentlich nicht blicken möchte und der einem vor Augen führt, dass auch in uns, so schön uns unser Gesicht auch vorkommen mag, die Fratze des Bösen entgegengrinst.

P.S.: Wessen Neugierde jetzt geweckt ist, dem empfehle ich als Einstieg den Roman „Atonement“, denn dieser ist von einer oberflächlichen Zartheit und gleichzeitigen inneren Tiefe, die den Leser auf sanfte Art und Weise an die Vorgehensweise von McEwan heranführt, ohne ihn gleich durch das Morbid-Makabere abzuschrecken.

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