Monthly Archives: August 2011

Walzer tanz man immer noch auf dem Parkett – nicht im Internet

Dies wird wohl einer der ungewöhnlichsten Beiträge dieses Blogs sein, da er eigentlich hier absolut fehl am Platz ist. Dennoch brennt mir das, was mir gerade durch den Kopf geht, dermaßen unter den Nägeln, dass ich es erst einmal niederschreiben muss, wenn ich heute Nacht auch nur ein Auge zu tun will. Da es jedoch um eine etwas komplexere Materie geht, der ich mich heute widme, muss ich, damit jeder sie auch nachvollziehen kann, etwas weiter ausholen.

Vor nunmehr sechs Jahren begann ich meine Tätigkeit am Lehrstuhl für Governance bei Professor Dr. Drechsler – damals noch an der Universität Tartu, später dann (bis heute) an der Technischen Universität Tallinn. Professor Drechsler, seines Zeichens einer der führenden Verwaltungswissenschaftler Europas folgt in seiner Lehre einer geschätzten Kollegin am Lehrstuhl, Carlota Perez, welche mittels Rückgriff auf Joseph Schumpeter, Nikolai Kontratiev und Christopher Freeman ein Modell entwickelt, welches sich mit Techno-Ökonomischen Paradigmen auseinandersetzt.

Um ihre Theorie auf ein ganz einfaches Level herunterzubrechen, so dass jeder sie nachvollziehen kann, möchte ich diese in groben Zügen widergeben, auch wenn das ursprüngliche Modell natürlich um einiges komplexer ist:

Der stete wirtschaftliche Aufschwung in den letzten Jahrhunderten ist nämlich nicht linear, sondern stellt eine Wellenbewegung dar. Die Neuerung, die nun das Model von Carlota Perez aufweist, ist, dass sie dieses Muster als Wogen deutet, wobei mehrere Wogen überlappend aufeinander folgen. Das Modell geht davon aus, dass es immer wieder Technologien gab und gibt, die einen allumfassenden Wandel in der Ökonomie herbeiführen und diese maßgeblich, also paradigmatisch dominieren. Jede Woge wird also von einer Technologie dominiert.

Eine solche Woge kann man sich ein bischen wie ein liegendes „S“ vorstellen: Zu Beginn gibt es einen leichten Anstieg, der dann stark nach oben geht, dann kommt ein Bruch und danach geht es weiter steil nach oben, bis dass der Anstieg wiederum flacher wird.

Diese Entwicklung bezieht sich, vereinfacht ausgedrückt, auf die Investition von Kapital in die jeweilige Technologie: Erst wird zögerlich investiert, dann kommt es zu einem Wahn, der in einen Kollaps und eine Rezession mündet. Nachdem diese Krise überwunden ist, wird in einem goldenen Zeitalter massiv in die paradigmatische Technologie investiert und diese durchdringt alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft, bis es zu einer gewissen Sättigung kommt und die neue Technologie mittlerweile soweit fortgeschritten ist, dass sie schon Teil der Infrastruktur geworden ist und quasi wenig Neuerungen diesbezüglich hervorbringt. Während dieser Reifephase setzt schon die Installationsphase der darauffolgenden Technologie ein.

Es muss an dieser Stelle hinzugefügt werden, dass nicht jede neue Erfindung oder jeder technologische Fortschritt hierbei ein Techno-Ökonomisches Paradigma darstellt, sondern dass dies nur auf die Technologien zutrifft, die in der Lage sind, nicht nur etwas Neues darzustellen, sondern vielmehr alle Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft beeinflussen und Verändern, so dass es zu einem positiven Effekt in allen Bereichen kommt und auch alte Industrien durch Implementierung der neuen Technologie einen Schritt nach vorne tun.

Deswegen geht das Modell auch davon aus, dass jede Woge in etwa sechzig Jahre abdeckt. Was solche tiefgreifenden Technologien sind, kann man am einfachsten verstehen, wenn man sich die vergangenen Wogen aus Professor Perez‘ Modell anschaut: a) Industrielle Revolution, b) Dampfmaschinen und Eisenbahnen, c) Stahl- und Schwerindustrie, d) Öl, Automobile und Massenproduktion und aktuell Information und Telekommunikation. Für jede dieser technologischen Paradigmen lässt sich das von Carlota Perez entwickelte Modell anschaulich nachweisen.

Ich möchte erneut darauf hinweisen, dass dies nur eine grobe Übersicht des Modells ist – wer sich darüber hinaus mit dieser Theorie beschäftigen möchte, soll dies bitte an den Originaltexten tun. Dennoch ist mir heute beim Betrachten der Börsennachrichten etwas aufgefallen.

Seitdem ich also meine Tätigkeit als Forschungsassistent begonnen hatte, habe ich immer wieder in Präsentationen von Professor Drechsler, der auf diese Theorie zurückgreift und sie weiterentwickelt hat, Schaubilder bearbeitet, die dieses Modell veranschaulichen. Zentral hierbei war immer eine Grafik, die das aktuelle Paradigma der Informations- und Telekommunikationstechnologie veranschaulicht. Dies begann in den frühen Siebzigern mit der Hochphase des Wahns in den Neunzigern und dem Zusammenbruch um das Jahr Zweitausend – der sogenannten Dotcom-Blase. Da im Modell von Professor Perez der Kollaps und die Rezession immer mehrere Jahre andauern können, befand sich in dieser Grafik damals – 2005 – ein Pfeil mit der Bezeichnung „wir sind wohl hier“ am Ende dieser Bruchstelle. Allerdings – und das ist der Ausgangspunkt meiner Überlegung – befindet sich dieser Pfeil auch heute noch dort.

Wenn ich es mir recht überlege, so kann man sagen, dass wir uns mit Ausnahme einiger kurzzeitigen Erholungen seit dieser Zeit in einer Art Dauerkrise befinden, beziehungsweise von einer Finanzkrise in die nächste stürzen. Zudem hat man den Eindruck, dass jede neue Krise die vorangegangene noch in der Hinsicht übertrifft, dass sie a) heftiger daherkommt, b) länger andauert und die Politik c) zunehmend handlungsunfähiger ist, der Krise entgegenzusteuern. Der Rückgriff auf eine rein neo-liberale Weltsicht auf den Finanzmärkten scheint mir hierbei zwar dem Sachverhalt förderlich zu sein, ist jedoch meines Erachtens nicht der maßgebliche Faktor (zumal dies eben auch aus der Theorie von Carlota Perez ableitbar wäre).

Wenn ich mir die von Carlota Perez beschriebenen verschiedenen Krisen anschaue und sie mit der jetzigen vergleiche, so fällt doch ein elementarer Unterschied ins Auge. Die bisherigen Krisen bezogen sich auf das Verhalten der Anleger und die jeweilige Investition in die herrschende Technologie. Doch hatten alle diese technologischen Fortschritte keine direkte Auswirkung auf die Prozesse der Finanzmärkte selber. Was sich veränderte, waren die Objekte, die gehandelt wurden, die Abwicklung des Handels an sich jedoch blieb weitestgehend gleich.

Hier jedoch liegt der Knackpunkt: Die aktuelle Technologie – sprich Informations- und Telekommunikationstechnologie – hat den Handel als solchen verändert. Das heißt, dass der von Professor Perez beschriebene Prozess seine Gültigkeit dadurch verliert, dass der Prozess selber durch die Technologie, quasi auf einer Metaebene, verändert wird. Dampfmaschine, Eisenbahn oder Automobil haben zwar die Wirtschaft und Gesellschaft verändert, nicht jedoch den Börsenhandel. Die Informationstechnologie jedoch wurde auch an den Börsen eingeführt und hat den Handel von Wertpapieren und die sonstige Abwicklung von Finanztransanktionen maßgeblich beeinflusst und um ein vielfaches vereinfach und beschleunigt. Nicht zuletzt wurden – und dies ist ein sehr entscheidender Punkt – viele Prozesse automatisiert.

Schaut man sich die Entwicklung der Leitindizes an, so stellt man fest, dass diese einen kontinuierlichen Anstieg aufweisen, was auch im Rahmen des Erwartbaren ist. Allerdings war dies in den vergangenen Jahrzehnten immer ein langsamer und von Schwankungen gezeichneter Anstieg. So überschritt der Dow Jones bis zu Beginn der Achtziger Jahre nie die 1000er Marke und der DAX kam nicht über 700 Zähler. 1977 führte die Börse in Toronto als erste weltweit den Computerhandel ein, andere Börsen folgten in den Jahren darauf. Versetzt man sich zurück in die Zeit der Achtziger Jahre, so wird klar, dass dies noch keinen allzugroßen Einfluss auf die Abwicklung der Börsengeschäfte haben konnte – die Computer seinerzeit waren allenfalls Hilfsmittel bei der Verwaltung der Vorgänge und selbst hierbei noch auf einem Level, dass aus heutiger Sicht sehr zu wünschen übrig ließe.

Entwicklung des Dow Jones (lineare Darstellung)

Entwicklung des DAX (lineare Darstellung)

Doch Mitte der Achtziger und besonders im Verlauf der Neunziger schoßen die Werte dann nach oben, so dass noch vor dem Jahr 2000 der DAX die 7000er-Marke, der Dow Jones sogar die 10000er-Marke durchbrach. Man muss sich dies einmal genau vor Augen führen: Im Jahre 1900 lag der Dow Jones noch weit unter der Marke von 100 Zählern und er brauchte über achtzig Jahre, um seinen Wert auf 1000 zu verzehnfachen. Zwischen 1980 und 2000 verzehnfachte er sich jedoch abermals und wuchs auf Werte über 10000 an. Ebenso ging es dem DAX, welcher sich von etwa 500 Zählern im Jahre 1960 bis zum Jahre 1985 nur auf 1000 Zähler verdoppelte. Seitdem jedoch bis zum Einsetzen der Lehmann-Krise verachtfacht.

Eine solche Entwicklung lässt sich nur dadurch erklären, dass die Börsen sich in den letzten zwanzig Jahren enorm verändert haben. Der Computerhandel hat den Parketthandel immer mehr verdrängt und ihn teilweise ganz ersetzt – zudem ist die dahinter stehende technologie immer weiter entwickelt worden, was zwei fundamentale Folgen hat: Zum einen hat sich das Tempo rapide erhöht, zum anderen trat die Menschlichkeit der Entscheidungen immer mehr in den Hintergrund.

Heute entscheidet nicht mehr ein Mensch über Ver- oder Ankauf von Aktien, sondern ein Großteil der Transaktionen wird automatisiert von Computerprogrammen ausgeführt. Zudem sind die Verwaltungssysteme soweit fortgeschritten, dass binnen Sekunden Geschäfte von beliebigen Summen abgewickelt werden können. War es auf dem Börsenparkett noch möglich, einsetzenden Entwicklungen durch menschliche Vernunft entgegenzutreten, so verkaufen oder kaufen darauf ausgelegte Programme heute sämtliche Werte, sobald ein gewisser Punkt überschritten wurde automatisch und – dies ist das entscheidende – in Sekundenschnelle und somit unaufhaltsam.

Um zurück zu kommen auf das Modell von Carlota Perez: Dieses würde auch in der aktuellen Situation noch volle Gültigkeit besitzen, wenn der Handel weiterhin von Menschen durchgeführt würde. Dann stünde dem Eintritt ins goldene Zeitalter nichts entgegen. Denn dass dieses Modell richtig und wahr ist, erschließt sich jedem, der sich genauer damit auseinandersetzt. Doch dadurch, dass es eine Digitalisierung der Finanzmärkte gegeben hat, kommt eine neue Komponente hinzu, die diesen gewissermaßen natürlichen und vorhersehbaren Prozess unterwandert und pervertiert. Solange wir die durch die Technologisierung des Handels entstandenen Auswüchse nicht unter Kontrolle bringen können (falls dies überhaupt möglich ist), solange werden wir von einer Krise in die nächste stolpern.

Wir sollten vielleich innehalten und uns fragen, ob es wirklich in jedem Bereich unseres Lebens sinnvoll ist, der Maschine den Vortritt zu lassen und unsere Aufgaben an Algorithmen zu delegieren. Natürlich wäre es wohl technisch kein Problem, Gerichtsurteile automatisiert von Softwar fällen zu lassen, doch wird hiergegen jeder zurecht Einspruch erheben. Deswegen sollten wir ebenso wenig unsete Finanzgeschäfte den Computern überlassen und uns einfach bewusst werden und akzeptieren, dass es gewisse Prozesse gibt, die immer noch auf einem grundlegenden Prinzip fußen müssen: der menschlichen Ratio.

Daher sehe ich mittlerweile nur einen einzigen Ausweg aus dieser Misere: DAS VERBOT JEDWEDEN SOFTWAREGESTEUERTEN HANDELS AN DEN FINANZMÄRKTEN!

Um eines klar zu stellen: Dies bezieht sich nicht auf die Software, die eingesetzt wird, um die Transaktionen zu verwalten und zu verbuchen – diese sind weitestgehend ungefährlich. Es geht darum, dass es keine Programme geben darf, die automatisch ohne menschliches Zutun Transaktionen initiieren. Hinter jeder einzelnen An- oder Verkaufsentscheidung muss ein Mensch stehen, der diese nach entsprechender Reflektion fällt. Nur so können wir die perversen Auswüchse an den Börsen verhindern. Daher gibt es meines Erachtens nur ein einziges Mittel, um wieder Stabilität in die Finanzmärkte zu bringen: die Rückkehr zum Parketthandel.

Denn ebenso wie in zwischenmenschlichen Beziehungen so gilt auch für die Börse: Ich kann tausende Freunde bei Facebook akkumulieren – doch wer in den Genuss eines Walzers kommen will, der muss aufs Parkett!

NIEmand hat die Absicht, eine Mauer einzureißen

Es ist auf die Stunde fünfzig Jahre her, dass erste Zementsäcke Richtung Berlin-Mitte getragen wurden, um die Teilung Deutschlands in Stein zu fassen. Mittlerweile ist die Mauer, dieses innerdeutsche Monstrum, seit über zwanzig Jahren verschwunden und zumindest in der Natur ist Gras über die Sache gewachsen. Ein grünes Band zieht sich durch Deutschland, in dem Flora und Fauna zum Teil vergessenen und beinahe ausgestorbenen Arten wieder einen Lebensraum bieten. Lediglich der Mauerspecht ist ausgestorben.

Man sollte meinen, dass es an der Zeit sei, dass auch in Bezug auf uns Menschen, Gras über die Sache wächst. Doch dem ist leider nicht so. Obwohl wir jetzt schon über die Hälfte der Zeitspanne, die Deutschland überhaupt nur geteilt war, wieder vereint sind, und es eine ganze Generation gibt, die nicht mehr weiß, dass der Sandmann früher in einigen Teilen des Landes einen Vollbart und eine Jeanshose trug, bleibt die Mauer in den Köpfen weiterhin bestehen.

Individuell mag sich bei den Deutschen viel bewegt haben, doch institutionell findet sich noch heute eine rote Linie in der Deutschlandkarte, die den Westen vom Osten trennt. Zumindest wenn man sich die meisten Statistiken anschaut, die all überall publiziert werden. Egal um was es geht, es wird weiterhin differenziert zwischen Ost und West.

Dies ist mir erst vor kurzem wieder aufgefallen, als ich die Pressemitteilung zum Mikrozensus gelesen habe. Doch gerade von einer staatlichen Behörde wie dem Bundesamt für Statistik sollte man erwarten dürfen, dass man auf eine solche Gegenüberstellung verzichtet. Man mag zwar jetzt einwenden, dass es durchaus erkennbare, strukturelle Unterschiede gibt zwischen Ost und West und somit eine Gegenüberstellung gerechtfertigt sei, doch sollte man dann auch sehen, dass es ähnliche Unterschiede zwischen Nord und Süd gibt – doch in letzterem Falle findet sich dies nicht im Sprachgebrauch wieder.

Sprache dient nicht nur dazu Wirklichkeit zu beschreiben, sondern Sprache ist immer auch ein Mittel, um Wirklichkeit zu gestalten. An sich bezeichnen die Begriffe „Ost“ und „West“ lediglich Himmelsrichtung, jedoch wurde ihr semantischer Gehalt nach dem Krieg politisch aufgeladen. Bevor man diese Begriffe wieder neutral nutzen kann, muss man sie erst einmal entladen und die politische Dimension muss gänzlich verschwinden. Dies passiert allerdings nicht, solange man sie weiterhin nutzt, als würden sie noch auf ein geteiltes Deutschland verweisen. Es ist ein gravierender Unterschied, ob ich Thüringen mit Hessen vergleiche oder die alten mit den neuen Ländern. Denn wenn ich letzteres tue, sende ich implizit die Botschaft mit, dass ich weiterhin an der deutsch-deutschen Grenze festhalte und konnotiere eine andauernde Teilung des Landes. Doch genau dies sollten wir uns alle endlich abgewöhnen. Denn dadurch lebt das Erbe Ulbrichts weiter. So lange wir noch von Ost- und Westdeutschland sprechen, stoßen wir de facto mit Margot Honecker auf den Jahrestag der DDR an.

Wenn man schon intranationale Vergleiche aufstellen möchte, warum tut man dies dann nicht, in dem man die Bundesländer einzeln aufführt oder aber, je nach thematischem Zuschnitt des Faktums, welches man herausstellen möchte, in der Form, dass man die beiden Extreme vergleicht? „Während Bayern hierbei vorne liegt, hat Bremen noch einiges aufzuholen.“ Warum verdammt noch mal nach über zwanzig Jahren immer noch Ost gegen West, gutes Deutschland gegen schlechtes Deutschland? Es reicht doch schon, dass die Zahlen eine Teilung widerspiegeln, muss man das dann noch sprachlich unterstreichen und gesondert darauf hinweisen? Wie will man denn „dem Deutschen“ abverlangen, dass er sich als ein Ganzes definiert, wenn man seine Schizophrenie andauernd erwähnt: „Sei eins mit dir, Michel, aber bedenke, dass zwei Seelen, ach, in deiner Brust wohnen!“ Paradoxer geht es kaum noch.

So bestimmt wie es damals hieß: „Wir sind DAS Volk!“, so sollten wir jenseits der Bestimmungen „Ost“ und „West“ heute ganz unbestimmt sagen: „Wir sind EIN Volk!“  Wir sollten aus den semantischen Ruinen auferstehen und uns der Zukunft zuwenden. Es wird höchste Zeit, sonst wird es uns im schlimmsten Falle nach den nächsten zwei Jahrzehnten gelungen sein, die Lebensdauer der deutschen Teilung verdoppelt zu haben.

Allerdings bezweilfe ich, dass diese mentale Überwindung in der nächsten Zeit geleistet wird – zumindest unter denen nicht, die im geteilten Deutschland aufgewachsen sind. Doch sollten wir aufpassen, dass wir diese Altlast nicht an die Jungen weitergeben. Es macht nämlich auch keinen Sinn noch in D-Mark zu rechnen, wenn man nur Euro in der Tasche hat.

Aktuell ist die Mauer noch immer präsent und wird es wohl auch noch einige Zeit bleiben, was sich jetzt nicht auf die Berichterstattung zum Gedenken bezieht. Somit könnte heute, 50 Jahre nach dem Originalzitat dieses leider in etwa so lauten: „Ich verstehe Ihre Frage so, dass es Menschen in Deutschland gibt, die wünschen, dass wir die Statistiker der Hauptstadt mobilisieren, um eine Mauer einzureißen, ja? Ääh, mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht, da sich die Statistiker in der Hauptstadt hauptsächlich mit Demographie beschäftigen und ihre Arbeitskraft voll ausgenutzt, ääh, eingesetzt wird. Niemand hat die Absicht, eine Mauer einzureißen.“

Hoffen wir, dass sich das abgewandelte Zitat ebenso schnell in die negierte Wirklichkeit verwandelt, wie es das originale getan hat. Denn jede Statistik und jeder Artikel, der Deutschland noch in Ost und West unterteilt, ist ein weiterer Stein auf der virtuellen Mauer, in deren Schatten die Deutschen noch immer leben.

Von Schienen zu Scheinen – es ging immer nur um Schotter

Was die Politik heute in Atem hält begann im Jahre 1868 im „Manual of the Railroads of the United States” als Henry Varnum Poor Informationen über die amerikanischen Eisenbahngesellschaften veröffentlichte. An sich ein sinnvoller Schritt, denn im Wettrennen der Unternehmen war es mehr als verständlich, dass Anleger wissen wollten, auf welches Pferd – oder besser welche Bahn – sie setzen sollten und welche Unternehmungen so erfolgsversprechend seien, dass sich eine Investition lohne. Jedoch tickten die Uhren seinerzeit noch anders und der Kapitalismus funktionierte noch nach klassischen Regeln. Es ging darum, denjenigen, der über Kapital verfügt mit demjenigen zusammenzubringen, der eine Geschäftsidee hat – damit ersterer sein Kapital nutzen und letzterer seine Idee umsetzen konnte.

Natürlich mag es auch damals schon Menschen gegeben haben, die auf gewisse Ereignisse spekulierten und dies zur Maxime ihrer Anlageentscheidung machten, jedoch kann man sagen, dass der Großteil der Anleger darauf bedacht war, das Kapital zu nutzen, um Wertschöpfung zu betreiben und zwar in Form einer Verbesserung der Gesellschaft, einer Erhöhung der Produktivität oder aber einer Maximierung des gesellschaftlichen Wohlstands durch Fortschritt.

Heute jedoch ist Spekulation die Regel und ehrliche Anlage die Ausnahme und auch hinsichtlich der Ziele hat sich an den Finanzmärkten der Welt eine Verschiebung ergeben. Es geht lediglich darum, dass Kapital weiteres Kapital hervorbringt. Unternehmen sind nur dann interessant, wenn die Profite stimmen, die man später abschöpfen kann – je schneller und kurzfristiger sich dieser Effekt einstellt, desto besser. Die Macht des Ratings hat sich in dieser Zeit ebenso exponentiell entwickelt wie die Höhe der Anlagesummen, die gehandelt werden.

Es hat ein Wandel stattgefunden von der gut geplanten und gezielten Geldgabe für den Bau von Gleisen hin zu einem virtellen Vabanquespiel auf den weltweiten Finanzmärkten.

Im Falle der Eisenbahngesellschaften ging es dem Anleger darum, aus dem vorliegenden Urteil das Ob und Wie seiner Investition abzuleiten. Dem ist im Grunde auch heute noch so, wenn die großen Ratingagenturen ganze Länder bewerten. Allerdings hat man in der Vergangenheit die Spielregeln immer weiter verschärft und das Ergebnis der Ratings wurde zur Prämisse immer weiterer Konditionen.

Dies führt jedoch – und dazu bedarf es keines Logikseminars – zu einem entscheidenden systemimmanenten Fehler. In dem Moment, wo sich etwa Zinsätze auf Kredite oder Konditionen für andere Finanzmaßnahmen durch eine Prognose verändern, verlässt derjenige, der diese Prognose aufstellt, den Bereich der Beurteilung und Bewertung und betritt den Bereich der Ausgestaltung der Zukunft. Das von ihm vorhergesagte Potential wird durch sein Handeln zur Realität. Für Konstruktivisten ist dies immer so, doch in diesem Falle muss man sich nicht neben Watzlawick setzen, um zu sehen, was dort vor sich geht.

Im Grunde genommen ist die Bewertung einer Ratingagentur dem in den Sprachwissenschaften gängigen Modell des Sprechaktes vergleichbar – wer je auf einer Hochzeit war, der weiß, dass erst durch den Satz: „Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau“, die Ehe geschlossen wird und in genau diesem Moment Aussage, Aktion und Ergebniss in einem Zeitpunkt vereint sind. Wenn Moody’s also ähnlich den harten Jungs auf dem Schulhof sagt: „Du Opfer“, dann wirst du es ab genau diesem Augenblick auch sein.

Mir sei an dieser Stelle eine Analogie erlaubt, über deren Schwachpunkte ich mir sehr wohl im Klaren bin, die ich dennoch als anschaulich genug ansehe, dass sie den Sachverhalt anhand eines einfachen Beispiels klar macht:

Kurz nach den Weihnachtsferien werden die Zeugnisse vergeben und die Zensuren des Schülers sind alles andere als glorreich. Die Beurteilung seiner Leistungen sind nachweisbar schlecht und für alle ersichtlich. Bis hierher ist auch alles soweit in Ordnung und es eröffnet den Eltern genug Handlungsspielraum in welcher Weise auch immer auf diese faktische Gegebenheit zu reagieren. Wenn nun jedoch der Lehrer, der ja aus Elternsicht hinsichtlich der im zweiten Halbjahr zu erwartenden Leistungen einen Wissensvorsprung hat und die Lage besser einzuschätzen weiß, jenseits der schon im Zeugnis dokumentierten Beurteilung darauf hinweist, ob der Schüler das Klassenziel wird erreichen können, so änder sich seine Funktion.

Wenn er etwa äußert, dass der Schüler es sowieso nicht schaffen werde, seine Zensuren in dem noch verbleibenden Zeitraum zu verbessern, so kann dies dazu führen, dass die Eltern auch keinen Sinn mehr darin sehen, dem Schüler Nachhilfe zukommen zu lassen, was dann letzendlich zur Folge hat, dass er sitzen bleibt. Stellt der Lehrer den Eltern jedoch in Aussicht, dass es noch eine (wenn auch geringe) Chance gibt, dass der Schüler die Kurve noch kriegt, so werden diese ihr Kind vielleicht mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln behilflich sein und mit etwas Glück auch erreichen, dass der Schüler versetzt wird.

Einem Lehrer, der sich wie im ersten Falle verhält, würde man wohl zurecht vorwerfen, dass er nicht gerade über ein ausgeprägtes pädagogisches Geschick verfügt und seine Schüler vorschnell abschreibt. Doch genau das ist es, was, um zum Thema zurück zu kommen, die Ratingagenturen tun. Sie prognostizieren, dass Griechenland das Klassenziel nicht erreicht und die Banken und Kreditinstitute der Welt verweigern die Nachhilfe.

Es geht also nicht um die Warnungen einer zur Wahrheit verdammten Kassandra, denen man besser Beachtung schenken sollte, will man nicht vom Untergang Trojas überrascht werden. Es geht vielmehr um eine pervertierte Modernisierung des Ödipus-Stoffes. Denn dadurch, dass man versucht mit dieser Warnung das Schiksal abzuwenden, beschwört man es herauf und provoziert ein Verhalten, was erst zu dem vorhergesagten Ergebnis führt. Der klassische Fall einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung.

Das Schlimme daran ist jedoch, dass dieser Effekt drastische Auswirkungen hat. Insbesondere in einem System, in dem sich die Finanzwirtschaft zunehmend von der Realwirtschaft emanzipiert hat, letztere jedoch in ebenso zunehmenden Maße von ersterer abhängig ist. Die Prognose einer Ratingagentur kann horrende Nachwirkungen haben und sogar ganze Staaten in den Abgrund stürzen, was dann nicht zuletzt auch politische Auswirkungen haben kann. Besonders im aktuellen Falle ist dies kritisch, da es bei Griechenland, Spanien, Irland und Italien nicht mehr nur um die Zukunft dieser einzelnen Länder geht, sondern diese im schlimmsten Falle den ganzen Kontinent mit hinunter ziehen. Als die vorderen Kammern der Titanic voll gelaufen waren, ging das Schiff unter, auch wenn man vorher der Überzeugung war, es sei unsinkbar. Wie wir alle wissen, halfen da auch die kleinen Rettungsboote nicht mehr.

Man darf gespannt sein, was passiert, sobald die Agenturen auch bezüglich den USA den Daumen senken. Dann könnte es sein, dass sich ein lehmanneskes Dominospiel in Gang setzt und die sich gerade erholende Weltwirtschaft erneut den Boden unter den Füßen verliert. Meines Erachtens erhält Amerika alleine aufgrund der Angst vor den Konsequenzen bisher noch das Triple-A.

Langfristig wird diese Gratwanderung, die von Ratingagenturen, Spekulanten und Großbanken betrieben wird, allerdings nicht gut gehen. Sie werden sich damit wortwörtlich ins eigene Fleisch schneiden. Wobei in diesem Falle das englische Pendent dieses Sprichwortes passender wäre: „Cutting off the nose to spite the face.“ Doch wenn man sich, um das Gesicht zu ärgern, die Nase abschneidet, verliert man sein Gesicht, weil zu diesem eine Nase wohl oder übel dazu gehört: Punkt, Punkt, Komma, Strich – wenn man zappelt, fällt der Tisch und die Moody’s blicket stumm, auf dem leeren Tisch herum.

Will heißen: Wenn die Weltökonomie heruntergewirtschaftet ist, gibt es auch nichts mehr zu raten. Weshalb man nur raten kann, sehr vorsichtig mit solchen Prognosen umzugehen. Zudem ist es höchste Eisenbahn, dass wir erkennen, dass wir aktuell nicht auf dem richtigen Gleis sind. Denn wer einen Cent auf solche Ratings setzt, darf sich nicht wundern, wenn er mit dem Euro bezahlt.