Dies wird wohl einer der ungewöhnlichsten Beiträge dieses Blogs sein, da er eigentlich hier absolut fehl am Platz ist. Dennoch brennt mir das, was mir gerade durch den Kopf geht, dermaßen unter den Nägeln, dass ich es erst einmal niederschreiben muss, wenn ich heute Nacht auch nur ein Auge zu tun will. Da es jedoch um eine etwas komplexere Materie geht, der ich mich heute widme, muss ich, damit jeder sie auch nachvollziehen kann, etwas weiter ausholen.
Vor nunmehr sechs Jahren begann ich meine Tätigkeit am Lehrstuhl für Governance bei Professor Dr. Drechsler – damals noch an der Universität Tartu, später dann (bis heute) an der Technischen Universität Tallinn. Professor Drechsler, seines Zeichens einer der führenden Verwaltungswissenschaftler Europas folgt in seiner Lehre einer geschätzten Kollegin am Lehrstuhl, Carlota Perez, welche mittels Rückgriff auf Joseph Schumpeter, Nikolai Kontratiev und Christopher Freeman ein Modell entwickelt, welches sich mit Techno-Ökonomischen Paradigmen auseinandersetzt.
Um ihre Theorie auf ein ganz einfaches Level herunterzubrechen, so dass jeder sie nachvollziehen kann, möchte ich diese in groben Zügen widergeben, auch wenn das ursprüngliche Modell natürlich um einiges komplexer ist:
Der stete wirtschaftliche Aufschwung in den letzten Jahrhunderten ist nämlich nicht linear, sondern stellt eine Wellenbewegung dar. Die Neuerung, die nun das Model von Carlota Perez aufweist, ist, dass sie dieses Muster als Wogen deutet, wobei mehrere Wogen überlappend aufeinander folgen. Das Modell geht davon aus, dass es immer wieder Technologien gab und gibt, die einen allumfassenden Wandel in der Ökonomie herbeiführen und diese maßgeblich, also paradigmatisch dominieren. Jede Woge wird also von einer Technologie dominiert.
Eine solche Woge kann man sich ein bischen wie ein liegendes „S“ vorstellen: Zu Beginn gibt es einen leichten Anstieg, der dann stark nach oben geht, dann kommt ein Bruch und danach geht es weiter steil nach oben, bis dass der Anstieg wiederum flacher wird.
Diese Entwicklung bezieht sich, vereinfacht ausgedrückt, auf die Investition von Kapital in die jeweilige Technologie: Erst wird zögerlich investiert, dann kommt es zu einem Wahn, der in einen Kollaps und eine Rezession mündet. Nachdem diese Krise überwunden ist, wird in einem goldenen Zeitalter massiv in die paradigmatische Technologie investiert und diese durchdringt alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft, bis es zu einer gewissen Sättigung kommt und die neue Technologie mittlerweile soweit fortgeschritten ist, dass sie schon Teil der Infrastruktur geworden ist und quasi wenig Neuerungen diesbezüglich hervorbringt. Während dieser Reifephase setzt schon die Installationsphase der darauffolgenden Technologie ein.
Es muss an dieser Stelle hinzugefügt werden, dass nicht jede neue Erfindung oder jeder technologische Fortschritt hierbei ein Techno-Ökonomisches Paradigma darstellt, sondern dass dies nur auf die Technologien zutrifft, die in der Lage sind, nicht nur etwas Neues darzustellen, sondern vielmehr alle Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft beeinflussen und Verändern, so dass es zu einem positiven Effekt in allen Bereichen kommt und auch alte Industrien durch Implementierung der neuen Technologie einen Schritt nach vorne tun.
Deswegen geht das Modell auch davon aus, dass jede Woge in etwa sechzig Jahre abdeckt. Was solche tiefgreifenden Technologien sind, kann man am einfachsten verstehen, wenn man sich die vergangenen Wogen aus Professor Perez‘ Modell anschaut: a) Industrielle Revolution, b) Dampfmaschinen und Eisenbahnen, c) Stahl- und Schwerindustrie, d) Öl, Automobile und Massenproduktion und aktuell Information und Telekommunikation. Für jede dieser technologischen Paradigmen lässt sich das von Carlota Perez entwickelte Modell anschaulich nachweisen.
Ich möchte erneut darauf hinweisen, dass dies nur eine grobe Übersicht des Modells ist – wer sich darüber hinaus mit dieser Theorie beschäftigen möchte, soll dies bitte an den Originaltexten tun. Dennoch ist mir heute beim Betrachten der Börsennachrichten etwas aufgefallen.
Seitdem ich also meine Tätigkeit als Forschungsassistent begonnen hatte, habe ich immer wieder in Präsentationen von Professor Drechsler, der auf diese Theorie zurückgreift und sie weiterentwickelt hat, Schaubilder bearbeitet, die dieses Modell veranschaulichen. Zentral hierbei war immer eine Grafik, die das aktuelle Paradigma der Informations- und Telekommunikationstechnologie veranschaulicht. Dies begann in den frühen Siebzigern mit der Hochphase des Wahns in den Neunzigern und dem Zusammenbruch um das Jahr Zweitausend – der sogenannten Dotcom-Blase. Da im Modell von Professor Perez der Kollaps und die Rezession immer mehrere Jahre andauern können, befand sich in dieser Grafik damals – 2005 – ein Pfeil mit der Bezeichnung „wir sind wohl hier“ am Ende dieser Bruchstelle. Allerdings – und das ist der Ausgangspunkt meiner Überlegung – befindet sich dieser Pfeil auch heute noch dort.
Wenn ich es mir recht überlege, so kann man sagen, dass wir uns mit Ausnahme einiger kurzzeitigen Erholungen seit dieser Zeit in einer Art Dauerkrise befinden, beziehungsweise von einer Finanzkrise in die nächste stürzen. Zudem hat man den Eindruck, dass jede neue Krise die vorangegangene noch in der Hinsicht übertrifft, dass sie a) heftiger daherkommt, b) länger andauert und die Politik c) zunehmend handlungsunfähiger ist, der Krise entgegenzusteuern. Der Rückgriff auf eine rein neo-liberale Weltsicht auf den Finanzmärkten scheint mir hierbei zwar dem Sachverhalt förderlich zu sein, ist jedoch meines Erachtens nicht der maßgebliche Faktor (zumal dies eben auch aus der Theorie von Carlota Perez ableitbar wäre).
Wenn ich mir die von Carlota Perez beschriebenen verschiedenen Krisen anschaue und sie mit der jetzigen vergleiche, so fällt doch ein elementarer Unterschied ins Auge. Die bisherigen Krisen bezogen sich auf das Verhalten der Anleger und die jeweilige Investition in die herrschende Technologie. Doch hatten alle diese technologischen Fortschritte keine direkte Auswirkung auf die Prozesse der Finanzmärkte selber. Was sich veränderte, waren die Objekte, die gehandelt wurden, die Abwicklung des Handels an sich jedoch blieb weitestgehend gleich.
Hier jedoch liegt der Knackpunkt: Die aktuelle Technologie – sprich Informations- und Telekommunikationstechnologie – hat den Handel als solchen verändert. Das heißt, dass der von Professor Perez beschriebene Prozess seine Gültigkeit dadurch verliert, dass der Prozess selber durch die Technologie, quasi auf einer Metaebene, verändert wird. Dampfmaschine, Eisenbahn oder Automobil haben zwar die Wirtschaft und Gesellschaft verändert, nicht jedoch den Börsenhandel. Die Informationstechnologie jedoch wurde auch an den Börsen eingeführt und hat den Handel von Wertpapieren und die sonstige Abwicklung von Finanztransanktionen maßgeblich beeinflusst und um ein vielfaches vereinfach und beschleunigt. Nicht zuletzt wurden – und dies ist ein sehr entscheidender Punkt – viele Prozesse automatisiert.
Schaut man sich die Entwicklung der Leitindizes an, so stellt man fest, dass diese einen kontinuierlichen Anstieg aufweisen, was auch im Rahmen des Erwartbaren ist. Allerdings war dies in den vergangenen Jahrzehnten immer ein langsamer und von Schwankungen gezeichneter Anstieg. So überschritt der Dow Jones bis zu Beginn der Achtziger Jahre nie die 1000er Marke und der DAX kam nicht über 700 Zähler. 1977 führte die Börse in Toronto als erste weltweit den Computerhandel ein, andere Börsen folgten in den Jahren darauf. Versetzt man sich zurück in die Zeit der Achtziger Jahre, so wird klar, dass dies noch keinen allzugroßen Einfluss auf die Abwicklung der Börsengeschäfte haben konnte – die Computer seinerzeit waren allenfalls Hilfsmittel bei der Verwaltung der Vorgänge und selbst hierbei noch auf einem Level, dass aus heutiger Sicht sehr zu wünschen übrig ließe.
Doch Mitte der Achtziger und besonders im Verlauf der Neunziger schoßen die Werte dann nach oben, so dass noch vor dem Jahr 2000 der DAX die 7000er-Marke, der Dow Jones sogar die 10000er-Marke durchbrach. Man muss sich dies einmal genau vor Augen führen: Im Jahre 1900 lag der Dow Jones noch weit unter der Marke von 100 Zählern und er brauchte über achtzig Jahre, um seinen Wert auf 1000 zu verzehnfachen. Zwischen 1980 und 2000 verzehnfachte er sich jedoch abermals und wuchs auf Werte über 10000 an. Ebenso ging es dem DAX, welcher sich von etwa 500 Zählern im Jahre 1960 bis zum Jahre 1985 nur auf 1000 Zähler verdoppelte. Seitdem jedoch bis zum Einsetzen der Lehmann-Krise verachtfacht.
Eine solche Entwicklung lässt sich nur dadurch erklären, dass die Börsen sich in den letzten zwanzig Jahren enorm verändert haben. Der Computerhandel hat den Parketthandel immer mehr verdrängt und ihn teilweise ganz ersetzt – zudem ist die dahinter stehende technologie immer weiter entwickelt worden, was zwei fundamentale Folgen hat: Zum einen hat sich das Tempo rapide erhöht, zum anderen trat die Menschlichkeit der Entscheidungen immer mehr in den Hintergrund.
Heute entscheidet nicht mehr ein Mensch über Ver- oder Ankauf von Aktien, sondern ein Großteil der Transaktionen wird automatisiert von Computerprogrammen ausgeführt. Zudem sind die Verwaltungssysteme soweit fortgeschritten, dass binnen Sekunden Geschäfte von beliebigen Summen abgewickelt werden können. War es auf dem Börsenparkett noch möglich, einsetzenden Entwicklungen durch menschliche Vernunft entgegenzutreten, so verkaufen oder kaufen darauf ausgelegte Programme heute sämtliche Werte, sobald ein gewisser Punkt überschritten wurde automatisch und – dies ist das entscheidende – in Sekundenschnelle und somit unaufhaltsam.
Um zurück zu kommen auf das Modell von Carlota Perez: Dieses würde auch in der aktuellen Situation noch volle Gültigkeit besitzen, wenn der Handel weiterhin von Menschen durchgeführt würde. Dann stünde dem Eintritt ins goldene Zeitalter nichts entgegen. Denn dass dieses Modell richtig und wahr ist, erschließt sich jedem, der sich genauer damit auseinandersetzt. Doch dadurch, dass es eine Digitalisierung der Finanzmärkte gegeben hat, kommt eine neue Komponente hinzu, die diesen gewissermaßen natürlichen und vorhersehbaren Prozess unterwandert und pervertiert. Solange wir die durch die Technologisierung des Handels entstandenen Auswüchse nicht unter Kontrolle bringen können (falls dies überhaupt möglich ist), solange werden wir von einer Krise in die nächste stolpern.
Wir sollten vielleich innehalten und uns fragen, ob es wirklich in jedem Bereich unseres Lebens sinnvoll ist, der Maschine den Vortritt zu lassen und unsere Aufgaben an Algorithmen zu delegieren. Natürlich wäre es wohl technisch kein Problem, Gerichtsurteile automatisiert von Softwar fällen zu lassen, doch wird hiergegen jeder zurecht Einspruch erheben. Deswegen sollten wir ebenso wenig unsete Finanzgeschäfte den Computern überlassen und uns einfach bewusst werden und akzeptieren, dass es gewisse Prozesse gibt, die immer noch auf einem grundlegenden Prinzip fußen müssen: der menschlichen Ratio.
Daher sehe ich mittlerweile nur einen einzigen Ausweg aus dieser Misere: DAS VERBOT JEDWEDEN SOFTWAREGESTEUERTEN HANDELS AN DEN FINANZMÄRKTEN!
Um eines klar zu stellen: Dies bezieht sich nicht auf die Software, die eingesetzt wird, um die Transaktionen zu verwalten und zu verbuchen – diese sind weitestgehend ungefährlich. Es geht darum, dass es keine Programme geben darf, die automatisch ohne menschliches Zutun Transaktionen initiieren. Hinter jeder einzelnen An- oder Verkaufsentscheidung muss ein Mensch stehen, der diese nach entsprechender Reflektion fällt. Nur so können wir die perversen Auswüchse an den Börsen verhindern. Daher gibt es meines Erachtens nur ein einziges Mittel, um wieder Stabilität in die Finanzmärkte zu bringen: die Rückkehr zum Parketthandel.
Denn ebenso wie in zwischenmenschlichen Beziehungen so gilt auch für die Börse: Ich kann tausende Freunde bei Facebook akkumulieren – doch wer in den Genuss eines Walzers kommen will, der muss aufs Parkett!