Es war der Abend des 27. Juni 1969, viele der Schwulen, die sich in der kleinen Bar „Stonewall Inn“ in der Christopher Street in New York versammelt hatten, trauerten noch immer um die ein paar Tage zuvor verstorbene und an diesem Tag beerdigte Judy Garland. Die Stimmung war gedrückt und von Trauer aufgeladen als zu später Stunde gegen 1:20 eine Polizeirazzia das Lokal stürmte. Eigentlich nichts Ungewohntes in jenen Jahren, als regelmäßig solche Razzien in von Homosexuellen frequentierten Etablissements durchgeführt wurden. Ungewöhnlich war lediglich die Zeit – denn meist waren solche Razzien zum einen vorab angekündigt und fanden andererseits am frühen Abend statt, damit die Bars danach – zur Hauptgeschäftszeit – wieder öffnen konnten.
Wenn diese Razzien normalerweise ohne Widerstand abliefen, diejenigen verhaftet wurden, die entweder Frauenkleider trugen oder sich nicht ausweisen konnten, so sollte es an diesem Abend in dieser Stimmung ganz anders verlaufen als sonst. Durch was genau der Aufstand ausgelöst wurde, wird wohl für alle Ewigkeit ein Rätsel der Geschichte bleiben und die Aussagen der Zeugen widersprechen sich. Es muss jedoch alles sehr schnell gegangen sein. Die anwesenden Schwulen, Lesben und Transgender wehrten sich und schlugen zurück – es entstand eine Massenschlägerei in der Straße und die Polizei verbarrikadierte sich im nunmehr leeren Stonewall Inn. Doch die Meute gab keine Ruhe und versuchte den Laden anzuzünden oder mit herausgerissenen Parkuhren, die zu Rammböcken umfunktioniert wurden, zu stürmen. Das Ganze spitzte sich immer weiter zu. Es kamen immer mehr Menschen bis irgendwann geschätzte 2.000 Protestierende 400 Polizisten gegenüberstanden. Auch in den Folgetagen kam es an diesem Ort immer wieder zu Ausschreitungen, Schlägereien, Vandalismus und Festnahmen. Dennoch sollte diese Nacht den Lauf der Welt für viele Menschen verändern. Es war der erste Aufstand von Schwulen und Lesben gegen staatliche Unterdrückung und polizeiliche Willkür – der Anfang einer Schwulenbewegung, die es zwar auch vorher schon in Ansätzen gegeben hatte, die jedoch nie die Energie und die Dynamik entwickeln konnte, wie nach dieser Nacht.
Der Film „Stonewall“ aus dem Jahre 1995 bringt die Stimmung in dieser Nacht in der Bar schön zum Ausdruck und eine Szene hat sich mir seit dem ersten Sehen – vor meinem ersten CSD-Besuch in Köln im Jahre 1997 – ins Gehirn gebrannt. In einer früheren Szene des Films sah man, dass immer, wenn eine Razzia stattfand, der Türsteher die Anwesenden über ein Lichtzeichen informierte, dass die Polizei jeden Moment kommen würde. Dann versuchten sich die Drag Queens zu verstecken und man schaltete die Musik der Jukebox auf etwas Mainstreamigeres um. An diesem Abend jedoch sieht man nur, wie eine Hand mit lackierten Fingernägeln Richtung Jukebox greift und eine andere, geschmeidige Hand, die nicht geschmeidig genug wirkt, als dass sie zu einer Frau gehören würde, das Handgelenk der ersten fest umgreift und denjenigen daran hindert, das Lied zu wechseln. Dann das Gesicht einer Drag Queen, die kurz, aber nachdrücklich fordert: „Judy stays!“
Judy, war eines der großen Idole gewesen, ebenso wie es ihre Tochter Liza Minelli einst werden sollte. Als Tochter eines homosexuellen Filmmanagers und nach ersten eigenen lesbischen Erfahrungen heiratete sie der Gerüchte wegen. Mit ihrem zweiten Mann, dem homosexuellen Alfredo Minelli bekam sie eine Tochter: Liza, die später mit Cabaret die Homosexualität in einer bis dahin ungekannten Kunstfertigkeit und Leichtigkeit auf die Leinwand brachte. Genug Stoff für eine Schwulenikone, die sich überdies noch mit ihrem größten Erfolg „The Wizard of Oz“ in die Herzen der schwulen Community sang. Nicht umsonst galt es damals als Erkennungszeichen untereinander, wenn man fragte: „Are you also a follower of the yellow brick road?“, in Anlehnung an den gelben Pflasterstweg des Films oder aber: „Are you also a friend of Judy?“
Es war die Zeit des Versteckens, die Zeit von geschlossenen Bars, in die man nur mit einem Passwort oder in Begleitung eingelassen wurde und die Zeit, in der viele genötigt waren, ihre Neigung im Dunkeln und Verborgenen zu leben. Dies sollte sich auch noch einige Jahrzenhte so halten und es lässt einen heute noch staunen, wenn man von älteren Schwulen erzählt bekommt, dass dies teilweise bin in die achtziger Jahre hinein noch so war. Erst seit 1993 ist Homosexualität keine von der Weltgesundheitsorganisation anerkannte psyschiche Krankheit mehr. Wenn man bedenkt, dass keine zehn Jahre später die ersten homosexuellen Paare ihren Bund fürs Leben schließen konnte, sieht man, wie schnell sich eine Gesellschaft doch öffnen kann.
Doch genau dies verlieren leider vile jüngere Schwule heute aus dem Blick. Für sie – sofern sie in der Großstadt aufwachsen – gehört Schwulsein zum Leben wie McDonalds zu Deutschland. Alles ganz normal. Soll doch jeder lieben, wen er will. Doch gibt es sie auch heute noch: die Ressentiments, die offenen Beleidigungen, die verschlossenen Türen, die Prügel und gar die Morde – auch hierzulande. Selbst innerhalb des Schwulenviertels von Köln sind Bekannte von mir schon zusammengeschlagen worden.
Gerade dieser Tage, wenn man sich die – meist anonymen – Kommentare unter vielen der Berichterstattungen zu den CSD-Veranstaltungen durchließt, läuft einem oftmals ein kalter Schauer über den Rücken. Von Zweifel an der richtigen Lebensweise über falsch verstandenen Konservatismus bis hin zu offen geäußertem Ekel und blankem Hass ist hier alles zu finden. Auch wenn dies weitestgehend eine Mindermeinung ist in der heutigen Zeit, so regt sie jedoch zum Nachdenken an. Ebenso wie wenn man sich die Situation vieler Schwuler auf dem Land vor Augen führt, die auch heute noch versteckt leben müssen und Opfer von Ausgrenzung oder gar Gewalt werden.
An dieser Stelle möchte ich mich einmal bei all jenen bedanken, die es mir so einfach gemacht haben. Aufgewachsen in einem Eifeldorf, in dem Schwulsein nicht stattfand und erzogen an einem Gymnasium, an dem man sich erst outete, nachdem man sein Abitur in der Tasche hatte, bin ich doch nie wirklich diskriminiert worden – obwohl ich mich damals schon in der zehnten Klasse outete. Nagut, es gab auch hier den ein oder anderen blöden Spruch und auch Prügel sind mir angedroht worden, jedoch Gewalt habe ich, Gott sei Dank, nie erfahren müssen. Auch wenn natürlich hinter meinem Rücken viel gesprochen wurde, so hat man sich mir doch im direkten Kontakt meist offen oder zumindest nicht ablehnend gegenüber verhalten. Natürlich sind mir selbst im engsten Kreise nicht die Blicke entgangen, die kleinen Spitzen in Nebensätzen und die Distanziertheit im Kontakt – jedoch kann ich alles in allem sagen, dass ich sehr großes Glück hatte, in einem doch recht liberalen Umfeld groß geworden zu sein – so konservativ man dort auch war (und teilweise heute noch ist).
Ich denke, so schön die Paraden auch sind und so gerne ich dieses alljährliche Fest feiere, so sollte doch jeder auch in einem stillen Moment innehalten und sich vor Augen führen, dass es nicht überall glitzert und nicht überall gute Stimmung ist, wo sich Homosexuelle befinden. Man muss nicht über Deutschlands Grenzen hinausschauen, um der abscheulichen Fratze der Homophobie zu begegnen – es reicht ein Blick in die Außenbezirke und Vororte der Städte und man stellt erschreckt fest, dass zwar viel erreicht wurde, wir jedoch noch lange nicht am Ziel sind.
Ich wünsche allen, die auch heute noch diskriminiert werden und, die in einem Umfeld der Ignoranz und Vorurteile leben, die Kraft und Stärke, die sie benötigen und drücke ihnen fest die Daumen, dass sie dennoch ihren Weg finden und so leben können, wie sie es wollen. „Out of the closets and into the streets“, damit wir aller Welt zeigen können: „Judy stays!“