„Good afternoon, Ladies and Gentlemen. First: The probable cause of AIDS has been found. A variant of a known human cancer virus. Second: Not only has the agent been identified, but a new process has been developed to mass produce this virus. Thirdly: With discovery of both the virus and this new process, we now have a blood test for AIDS. With the blood test we can identify AIDS victims with essentially 100 percent certainty.”
Was heute aussieht wie ein halbwegs gewöhnlicher Text einer Pressekonferenz einer US-amerikanischen Gesundheitsministerin, hatte vor heute genau 30 Jahren eine ganz andere Wirkung. Auch wenn der Humane Immundefizienz-Virus erst circa zwei Jahre später seinen heutigen Namen erhielt, so ist der 23. April 1984 jedoch sein faktischer „Geburtstag“. Denn nun hatte man die Ursache für diese ominöse Krankheit gefunden, die seit einigen Jahren eine Vielzahl meist homosexueller Männer hinwegraffte. Die Ursache des Verendens war gefunden und wurde zur Ursache der Verfolgens: dem Sterben folgte das Stigma.
Ob die nicht geringe Zahl an Dissidenten mit der Behauptung richtig liegt, dass auf dieser Pressekonferenz der Grundstein für den größten Medizinskandal aller Zeiten gelegt wurde, sei einmal dahingestellt – würden sich ihre Thesen bewahrheiten wäre dem allemal so. Was man allerdings mit Sicherheit sagen kann: Es war der Startschuss für die größte Skandalisierung aller Zeiten in der Medizin.
Erst wurde getestet, dann geurteilt und schließlich gegrübelt – darüber, wie man dieser „Schwulenpest“ Herr werden konnte. Wir, die wir mittlerweile daran gewöhnt sind, dass alle Jahre wieder, meist im Frühjahr, irgendeine neue Seuche oder epidemische Bedrohung (heißt sie nun EHEC, SARS, BSE oder sonstwie) als Sau durch das mediale Dorf getrieben wird, können uns kaum vorstellen, welche ein Bedrohungsszenario damals aufgebaut wurde.
Die Boulevardzeitungen meldeten in großen Lettern, dass in Hamburg ein AIDS-Kranker im Bus gefahren sei und Schlagzeilen wie „München: Todesvirus im Vormarsch“, „Bonn will AIDS-Kranken Sex verbieten“ oder „Alle Deutschen zum Zwangstest“ dominierten die Titelblätter. Auch politisch begann eine Hexenjagd, die nicht nur auf die Betroffenen selbst, sondern auch auf ganze Bevölkerungsteile ausgeweitet wurden. Die noch in den Kinderschuhen steckende Schwulenbewegung war von jetzt auf gleich um Jahre zurückgeworfen.
Die skurrilsten Ideen geisterten durch die politischen Debatten, von denen man eigentlich seit der NS-Zeit hätte wissen müssen, dass es keine adäquaten Mittel sind: Namentliche Erfassung, „Rosa Listen“, Zwangstätowierung, Quarantänemaßnahmen, Pflichttestungen und vieles andere mehr – der Unionspolitiker Peter Gauweiler polemisierte allen voran. Doch Gottlob scheiterten solche Vorstöße nicht allein daran, dass in Deutschlands Schwulenhochburg Köln, die ehemalige Leprakolonie Melaten inzwischen mitten in der Stadt lag und zudem seit fast 200 Jahren zum Friedhof umfunktioniert war, sondern insbesondere durch liberalere Stimmen in der Politik – unter anderem der von Rita Süssmuth, ebenfalls Union, deren weitsichtige Politik man heute oftmals unterschätzt.
Doch soll dies jetzt kein Betroffenheitsblog werden – denn ich wäre nicht ich, würde ich diesen Jahrestag nicht dazu nutzen, auf ein gutes Buch aufmerksam zu machen, welches ich im vergangenen Jahr erst gelesen habe: Wie Jakob die Zeit verlor von Jan Stressenreuter.
Eingekleidet in eine typisch-schwule Liebesgeschichte – denn die meisten schwulen Liebesromane haben entweder HIV oder das Coming-Out zum Thema – entfaltet Stressenreuter ein wunderbares Gefühl für das damals vorherrschende Klima. Er schafft es mit ähnlich subtilen Mitteln (wenn auch nicht so genial) wie Tony Kushner in Angels in America das Private, das Politische und den Zeitgeist so miteinander zu verflechten, dass es erlebbar wird und unter die Haut geht, und was Wolfgang Ehmer in Anderer Welten Kind für Nachkriegsdeutschland vermochte, vermag Stressenreuter für die 80er-Jahre: Er verlegt nicht nur einen Teil seiner Handlung in diese Zeit, sondern malt gleichsam ein Bild von ihr.
Selbst mir, der sich für diese Thematik schon immer sehr interessiert hat, erschlossen sich ganz neue Blickwinkel auf eine Zeit, die ich Dank der Gnade der späten Geburt nicht mehr miterleben musste. Ich war beim Lesen die meiste Zeit ebenso ergriffen wie als ich das erste Mal die Razzia-Szene im Film Stonewall sah.
Allerdings muss ich einschränkend hinzufügen, dass das Identifikationspotenzial in beiden Fällen natürlich durch das eigene So-Sein noch verstärkt wird, jedoch kann ich die Lektüre gerade denjenigen nur empfehlen, welche im Bannkreis immer wiederkehrender, vermeintlicher Heilsmeldungen und possierlichen Aufklärungskampagnen mit Kondom-Schmetterlingen und –Bärchen aufgewachsen sind.
Auch wenn der Roman nicht in allen Teilen das ersehnte gute Ende mit sich bringt, so hinterlässt er doch auf gewisse Weise nach Beendigung der Lektüre eine gute Portion Gelassenheit. Man gewinnt Distanz zu überhitzen Gesundheitsdebatten, bei denen sich meistens nichts so epidemisch ausbreitet wie die Skandalmeldungen selbst – ungeachtet der zugrunde liegenden Fakten.
Darüber hinaus macht er insofern Mut, als dass man natürlich aus heutiger Sicht weiß, dass sich vieles zum Guten gewendet hat – nicht nur in der Sache selbst, sondern auch hinsichtlich des Umgangs, was nicht nur der Tatsache geschuldet ist, dass wir Positiven von heute nicht alle so aussehen wie Tom Hanks in der Schlussszene von Philadelphia.
Doch bevor ich mich nun gänzlich in der Intermedialität und der Bezugnahme auf weiter Werke verfange, schließe ich doch lieber mit einem Zitat, welches eben diesen Mut zum Ausdruck bringt und welches das schon so oft invozierte Angels in America beschließt:
This disease will be the end of many of us, but not nearly all, and the dead will be commemorated and will struggle on with the living, and we are not going away. We won’t die secret deaths anymore. The world only spins forward. We will be citizens. The time has come.
Bye now.
You are fabulous creatures, each and every one.
And I bless you: More life.
The Great Work Begins.
END OF PLAY
P.S.: Da man sich eh nicht sicher ist, wann genau William Shakespeare geboren wurde, kann der Jubiläumspost auch noch etwas warten. Somit endet dieser Beitrag nicht mit den Worten: The rest is silence.