Der monatelangen Diskussionen überdrüssig, bin ich mittlerweile augenverdrehend zu diesem Schluss gelangt. Jedoch nicht weil ich der Überzeugung bin, dass der heute verabschiedete Bundespräsidentendarsteller und Vorzeigeschnäppchenjäger Christian Wulff es verdient hätte mit Ehrensold, Büro und Fahrer sowie Großem Zapfenstreich beehrt zu werden, sondern mehr im Sinne eines genervten: „Dann gib’s ihm halt.“ Er hat den Glamour und wir endlich Ruhe.
Es ist schon fast alles gesagt, diskutiert und geschrieben worden in den letzten Tagen, Wochen und Monaten – von Exkursen über den Ehrbegriff bis hin zu Interpretationen der Liedwünsche, deren Anzahl erneut viele in ihm den Präsident der Nimmersatten sehen ließen. Doch einen Punkt habe ich bei all den Texten und in all den Talkrunden vermisst: Zwar haben viele darauf hingewiesen, dass es ein Ding der Unmöglichkeit sei, dass das Bundespräsidialamt darüber entscheide, dass Wulffs Rücktritt politischer und nicht persönlicher Natur sei (und ihm somit den letzten Dienst erwiesen hat), jedoch riß dieses Argument immer an genau diesem Punkt ab. Allerdings entdeckt man das eigentlich Unfassbare daran erst, wenn man diesen Gedanken konsequent weiterdenkt.
Es waren also seine ehemaligen Untergebenen, Mitarbeiter und Freunde (teilweise noch aus Zeiten als Ministerpräsident in Niedersachsen), die darüber urteilten, wie der Rücktritt auszulegen sei. Der springende Punkt dabei ist jedoch, dass sie dazu unter anderem Sätze aus der Rücktrittserklärung ihrem Urteil zugrunde gelegt haben. Doch wer hat diese Formulierungen denn geprägt? Wer hat die Rede geschrieben? Denn schon unter der vielerorts zu findenden Kritik zu eben jener Rede, kann man sehen, dass ein nicht gerade geringer Teil davon ausging, dass die Worte so sorgsam gewählt worden seien, dass es weniger eine Rücktritts- sondern vielmehr eine Ehrensoldbeschaffungsrede sei. Jedoch entspringt diese Rede demselben Hause, welches kurze Zeit später über deren Auslegung urteilte. Es war derselbe Mitarbeiterkreis, der formulierte und auslegte – wenn dies nicht gar am selben Schreibtisch geschehen ist.
Ein solches Prozedere ist einem gewaltengeteilten, demokratischen Staate unwürdig und öffnet dem Korruptionspotenzial quasi Tür und Tor – und dies sperrangelweit. Natürlich wusste niemand in diesem Lande, wer denn nun letztendlich über das Wohl und Wehe des frischgebackenen Altpräsidenten zu entscheiden habe, doch dass diese Aufgabe dann das Präsidialamt selbst übernommen hat, ist ein weiteres Puzzleteil in der unbemerkten, schrittweisen Untergrabung unserer Verfassung, die ich schon beim letzten präsidialen Zapfenstreich bemängelt habe. Denn auch wenn unser Grundgesetz und die darauf basierenden Gesetze hierzu keine Regelung aufweisen, so gibt es aus der internen Logik des Grundgesetzes nur zwei – mit etwas wagemutiger Phantasie drei – Instanzen, die diese Entscheidung hätten treffen können. Das Präsidialamt fällt aus, da dieses weder über legislative noch über judikative Gewalt verfügt und auch die Bundesregierung hätte nicht darüber entscheiden dürfen, da sie in der Hierarchie der Verfassungsorgane in diesem Falle dem Bundespräsidenten nachrangig einzustufen wäre. Lediglich der Bundestag als die gesetzgebende Gewalt und das mächtigste und oberste Verfassungsorgan oder aber das Bundesverfassungsgericht als übergeordnetes Kontrollorgan und letzter Garant für die Stabilität des Rechtsstaates hätten hierüber entscheiden dürfen. Um kurz die wagemutige Phantasie noch einmal aufzugreifen, so wäre es theoretisch auch denkbar, dass man diese Beurteilung in die Hände derjenigen gelegt hätte, die auch die Macht haben, einen Präsidenten zu ernennen – ergo die Bundesversammlung. Doch wie gesagt, so ist diese Option eher ein gewagtes Gedankenexperiment. Man darf nur hoffen, dass dieser Vorgang noch nicht abgeschlossen ist und letzlich doch noch der Bundestag oder das Bundesverfassungsgericht entscheiden werden. Alles andere wäre ein weiterer Schritt in Richtung Italien, wo Präsidenten durch Einflussnahme und Strippenziehen ihre eigene, nur für sie persönlich geltende Rechtsauslegung ausgestalten können.
Ich kann es mir dann doch nicht verkneifen, meinen Eindruck des heutigen Schmierentheaters darzulegen, welches nichts anderem diente als unter Instrumentalisierung der Bundeswehr das eigene Gesicht zu wahren, um nicht doch Einsicht zeigen zu müssen. Denn der Bogen war längst überspannt und so kann ich es keinem der Vuvuzelabläser übelnehmen, dass er sich lautstark dagegengestellt hat – im Gegenteil, auch wenn unter den Demonstranten manch einer gewesen sein mag, der gegen dieses Ritual als solches protestiert hat, so denke ich doch, dass es nicht wenige waren, die gerade weil sie hierin eine Beschmutzung dieser Tradition sahen, dagegen angeblasen haben. Wir Menschen brauchen Traditionen und Rituale – seien sie noch so archaisch. Wir brauchen allerdings keine solchen Traditionen und Rituale wenn sie inhaltslos abgespult werden und an den Rande der eigenen Perversion getrieben werden.
Den ganzen Zapfenstreich über empfand ich, der ich sonst ein Freund des Pompösen bin, Unbehagen, einen leichten Anflug von Ekel, eine gute Portion Fremdscham und nicht zuletzt Mitleid; Mitleid für einen Menschen, der ikarusgleich noch der Meinung war, man könne mit Wachsflügeln zur Sonne fliegen. Vollends hat es mir jedoch – nach dem Sakrileg an einer inofiziellen Hymne der Schwulen und einem der berührensten Kirchenlieder – den Magen umgedreht als die deutsche Nationalhymne erklang. Eine so große Dissonanz waren selbst die Vuvuzelas zuvor nicht in der Lage herzustellen.
„Einigkeit…“
Der Präsident, der uns alle über Religionsgrenzen hinaus vereinigen wollte, hat durch seinen Eintritt in die Parallelgesellschaft des Kapitals tiefe Kluften in dieses Land geschlagen – er hat Befürworter und Gegner entzweit und „die da Unten“ von „denen da oben“ entfremdet. Selbst die eigene Partei hat er gespalten und beinahe wäre gar die Regierung an ihm zerborsten.
„…und Recht…“
Mit Recht oder gar Gerechtigkeit – oder zumindest dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Bürger, hatte die ganze Geschichte wenig zu tun. Eher noch mit „Recht behalten“, „sich im Recht wähnen“ und „auf sein Recht bestehen“.
„…und Freiheit…“
So wirklich frei wird sich heute Abend niemand der Anwesenden gefühlt haben – zumindest die Gesichter ließen dies nicht erkennen. Beklemmender hätte ein solcher Staatsakt nicht sein können. Diejenigen, die ihre Freiheit ausgelebt hatten, waren allenfalls die, die sich die Freiheit genommen haben, nicht zu erscheinen.
„…brüderlich…“
„…blüh im Glanze dieses Glückes…“
Wenn selbst die Nationalhymne von einem Nebel umwoben einen schalen Beigeschmack bekommt, dann muss man zu der Erkenntnis kommen, dass dieser Mensch dem Amt, das er innehatte nachhaltig geschadet hat, zumal wenn man den geleisteten Amtseid mitdenkt: „Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.”
Doch wahrlich, es hätte noch schlimmer kommen können, hätte man sich nach der Wiedervereinigung auf die andere (und meines Erachtens schönere) deutsche Hymne geeinigt. Denn die Zeile „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“ hätte ich sicherlich nicht verkraftet und hätte wohl oder übel ausschalten müssen.